100 Jahre Stahlrohrmöbel: Marcel Breuers Wassily Chair feiert Jubiläum

Marcel Breuer wurde 1902 im österreich-ungarischen Fünfkirchen (ungarisch: Pécs) geboren. 1921 begann er ein Studium am Bauhaus in Weimar. Im Jahr 1925 wurde er zum sogenannten Jungmeister und folgte dem Bauhaus, das in diesem Jahr seinen Sitz verlegte, nach Dessau, wo er die Leitung der Möbelwerkstatt übernahm. Im selben Jahr entwarf Breuer erstmals Möbelstücke aus gebogenem Stahlrohr. Die Idee dazu kam ihm angeblich beim Fahrradfahren – inspiriert vom Anblick des ebenfalls aus diesem Material gefertigten Lenkers. Unter diesen ersten Stahlrohrmöbeln fand sich auch der Clubsessel B 3 bzw. heute Wassily Chair genannt. Formal orientiert sich dieser an einem klassischen Clubsessel, jedoch gelang es Breuer, dieses traditionelle Möbelstück unter Verwendung des neuen Materials weitgehend zu entmaterialisieren. Auf ein Skelett aus Stahlrohr gespannt, bilden Lederbänder die Sitzfläche, Rücken- und Armlehnen. Die Art ihrer Aufspannung verleiht ihnen dabei federnde Eigenschaften, wodurch eine herkömmliche Polsterung überflüssig wird. Durch diese Skelettierung näherte sich Breuer seiner Vorstellung eines idealen Sitzmöbels an. Dieses ist ihm zufolge nicht mehr als eine federnde Luftsäule – also fast vollkommen entmaterialisiert. Eine weitere Besonderheit des Entwurfs stellt die nach hinten abfallende Sitzfläche dar, die zum optischen Eindruck eines in einem quaderförmigen Rahmen aufgehängten Sitzes beiträgt.

Für Herstellung und Vertrieb dieser Entwürfe gründete Breuer gemeinsam mit Kálmán Lengyel im Jahr 1926 die Firma Standard Möbel mit Sitz in Berlin. Von den gut 20 Modellen, die das Unternehmen anbot, stammten die meisten Entwürfe von Breuer, einige wenige von Lengyel. Entsprechend vermarktete die Firma ihre Produkte auch unter den Bezeichnungen „Stahlrohrmöbel System Breuer“ und „Breuer Metallmöbel“. Auch der heute als Wassily Chair bekannte, im Jahr 1925 unter der Bezeichnung B 3 entworfene Sessel, war Bestandteil der Kollektion von Standard Möbel. Im Jahr 1927 übernahm Anton Lorenz die Leitung des Unternehmens; 1929 verkaufte er es an Thonet, wo die Möbel noch für einige Zeit produziert wurden.

Marcel Breuer verließ im Jahr 1928 das Bauhaus. Nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland zunehmend an Einfluss gewannen, war er dort aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht mehr sicher. Im Jahr 1932 zog er in die Schweiz, bevor er 1935 Walter Gropius nach London folgte. Dort entwarf er für das Unternehmen Isokon Sessel, Sofas und Tische. 1937 zog er – wiederum Gropius folgend – weiter nach Massachusetts, wo er bis 1946 an der Harvard University lehrte. Auch arbeitete er in den USA vermehrt als Architekt und entwarf in den folgenden Jahrzehnten Gebäude wie das Hauptquartier der UNESCO in Paris, die US-amerikanische Botschaft in Den Haag, das Whitney Museum of American Art in New York, das Kaufhaus De Bijenkorf in Rotterdam oder den IBM-Campus in Boca Raton in Florida. Mit dem Ort Flaine in den französischen Alpen entwarf Breuer ein ganzes Skiresort, das zum Zeitpunkt seiner Eröffnung im Jahr 1981 über 6.000 Betten verfügte.

Bei all diesen Aktivitäten verlor Marcel Breuer jedoch auch das Möbeldesign nicht aus den Augen. In den 1940er Jahren bemühte er sich zwei Mal um eine Kooperation mit dem Möbelhersteller Knoll; der Kontakt zur Mitinhaberin Florence Knoll bestand bereits, da diese im Jahr 1939 für kurze Zeit in Breuers Architekturbüro gearbeitet hatte. Ein 1942 von Breuer vorgeschlagener Sessel wurde von Knoll jedoch aufgrund der hohen von Breuer geforderten Lizenzgebühren abgelehnt, eine 1948 begonnene Kooperation scheiterte ebenfalls.

Erst Ende der 1950er Jahre wird Marcel Breuer wieder im Bereich Möbeldesign aktiv, nun jedoch nicht mit einem neuen Entwurf, sondern mit der Wiederauflage des Sessels B 3. Gemeinsam mit dem von Siegfried Giedion, Rudolf Graber und Werner Max Moser 1931 gegründeten Zürcher Unternehmen Wohnbedarf plante er die Wiederauflage des Klassikers. Zuvor hatte er bereits 1932 und 1934 die Showrooms des Unternehmens in Zürich und Basel entworfen. Für die Wiederauflage des Sessels B 3 nahm Breuer leichte Änderungen am Entwurf vor: Um einen möglichst nahtlosen Eindruck zu erlangen, ersetzte er geschraubte Verbindungen teils durch Schweißnähte, so dass schließlich an den beiden Seiten des Sessels jeweils nur noch eine einziger sichtbarer Schraubenkopf verblieb. Mit dieser Wiederauflage war Marcel Breuer der erste Bauhäusler, dessen damaligen Entwürfe neu produziert wurden und bleibt bis heute einer von wenigen, die an diesem Prozess selbst aktiv beteiligt waren. Von Erfolg gekrönt war die Wohnbedarf-Neuauflage des Sessels B 3 jedoch nicht. Das Unternehmen ließ zunächst für einen Kunden sechs Exemplare des Sessels von der Sissacher Eisenmöbelfabrik fertigen. Nachdem der Kunde von seiner Bestellung zurücktrat, gelang es Wohnbedarf nur ein einziges Exemplar zum regulären Preis zu verkaufen; ein weiterer Sessel wurde mit großzügigem Rabatt an den Mann gebracht, ein dritter verschenkt. Die verbleibenden drei Sessel ließ Wohnbedarf von der Sissacher Eisenmöbelfabrik kostenpflichtig verschrotten. Das Bauhaus Design war zu diesem Zeitpunkt, rund 35 Jahre nach seiner Entstehung, aus der Mode gekommen, die Neuauflage ein Flop.

Auch in Italien war Marcel Breuer natürlich kein Unbekannter – erst recht nicht nachdem er dort 1955 den renommierten Designpreis Compasso d’Oro für sein Lebenswerk erhalten hatte. Der in Italien lebende, deutsche Kunsthistoriker Andreas Grote, der seinem bekannten Vater Ludwig Grote in dieser Profession nachgefolgt war, begegnete 1961 zufällig dem Möbelproduzenten Dino Gavina. Gavina hatte bereits 1950 ein Unternehmen zur Herstellung von Polstermöbeln gegründet, das ab 1960 als Gavina S.p.A. firmierte und seinen Sitz in Bologna hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Gavina bereits mit Achille und Piergiacomo Castiglioni und Carlo Scarpa kooperiert: Die Castiglioni Brüder hatten für das Unternehmen die Sessel Lierna und Sanluca entworfen, Carlo Scarpa das Interieur des Gavina-Showrooms in Bologna. Nach ihrem Treffen stellte Grote den Kontakt zwischen Dino Gavina und Marcel Breuer her und begleitete Gavina nach New York, wo sie die mögliche Neuauflage von einigen seiner Entwürfe aus der Bauhauszeit besprachen. Breuer und Gavina einigten sich darauf, dass das italienische Unternehmen fünf Sitzmöbel aus Stahlrohr darunter auch den später unter dem Namen Cesca bekannten Freischwinger und den Sessel B 3, sowie zwei Tische und einige Schichtholzstühle nach Entwürfen von Breuer neu auflegen würde. Der entsprechende Vertrag sah von Beginn an Produktionszahlen in den Tausenden vor, womit Gavina angesichts des vorherigen Misserfolgs mit Wohnbedarf, ein bemerkenswertes Risiko einging. Die Präsentation der ersten von Gavina produzierten Marcel-Breuer-Möbel erfolgte im November 1962 im Gavina-Showroom in Mailand. Dort gezeigt wurde auch der Sessel B 3, der fortan – zu Ehren von Wassily Kandinsky – die Bezeichnung Wassily trug. Wie schon zuvor für die Wohnbedarf-Auflage, hatte Breuer den Entwurf erneut leicht überarbeitet. Nun kam der Sessel wieder ohne Schweißnähte aus und verwendete erstmals Schrauben mit Innensechskantköpfen.

Wassily Chair 100 Jahre

Der Wassily Chair in der Ausführung in Leinen von Knoll International

Innerhalb weniger Jahre erlangte der mittlerweile rund vierzig Jahre alte Entwurf eine große internationale Bekanntheit und Gavina verkaufte die Stahlrohrklassiker – teils über ein Lizenzsystem – bald schon in weiten Teilen Europas und ab 1967 schließlich auch in den USA. Womöglich bot gerade das Umfeld des italienischen Designs in den 1960er Jahren die richtigen Bedingungen für einen erneuten Erfolg des Bauhaus-Klassikers. Stilistisch unterschied sich das italienische Design der Zeit zwar deutlich von den Entwürfen der klassischen Moderne, jedoch bestand in Italien eine große Wertschätzung für hochwertige und aufmerksamkeitserregende Möbelstücke mit hohem gestalterischem Anspruch. Sowohl Marcel Breuer als auch Dino Gavina befeuerten die Popularität des Sitzmöbels, indem sie einige Exemplare an gut vernetzte, angesehene Persönlichkeiten der Kulturwelt verteilten. So schenkte Breuer dem schon erwähnten Ludwig Grote, der bereits B 3 Sessel aus der Produktion von Standard Möbel besaß, zu dessen 70. Geburtstag zwei Wassily-Sessel. Dino Gavina wiederum gab Exemplare an Lucio Fontana und Max Ernst. Auch die geschickte Inszenierung des Sessels in Printmedien trug zu seiner Popularität bei. So sorgte Breuer dafür, dass in der 1963 veröffentlichten Monographie „Marcel Breuer Buildings and Projects 1921 – 1961“ ein Bild des Sessels mit der Unterschrift „First tubular chair‘ zu sehen war. Als das Buch erschien, war der Sessel in den USA noch gar nicht erhältlich, nichtsdestotrotz fachte die Publikation bereits die Nachfrage an. In Europa entfalteten derweil ähnliche Abbildungen in Zeitschriften wie „Domus“, „Abitare“ und „Schöner Wohnen“ ihre verkaufsfördernde Wirkung.

Wenige Jahre vor der erfolgreichen Neuauflage hatte 1958 in Zürich die Galeristin Heidi Weber begonnen, klassische Möbelentwürfe von Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand händisch in Kleinstserien zu fertigen und mit Lizenz der Urheber in ihrer Galerie zu verkaufen. Beflügelt vom Erfolg der Breuer-Neuauflagen bei Gavina, übernahm 1965 das Unternehmen Cassina die entsprechenden Rechte von Weber und brachte mit der „I Maestri“-Serie ebenfalls eine populäre Neuauflage ikonischer Entwürfe der klassischen Moderne auf den Markt. 1971 wurde die Serie um Entwürfe von Gerrit Rietveld erweitert; 1973 folgte Charles Rennie Mackintosh. Im Jahr 1968 übernahm das Unternehmen Knoll die Gavina S.p.A. und damit auch ihr gesamtes Sortiment. Bis heute produziert Knoll den Wassily-Sessel.

In den 1960er Jahren wurden Objekte wie der Sessel LC2 und die Liege LC4 von Le Corbusier oder eben der Wassily-Sessel von Marcel Breuer zu Sinnbildern der klassischen Moderne beziehungsweise des Bauhausdesigns. Das Konzept des Designklassikers bildete sich anhand dieser Möbelstücke erst heraus und als wiedererkennbare und hochpreisige Möbelstücke eigneten sie sich bestens als Objekte der Begierde, der Rest ist Geschichte....

Quellen:

CACCIOLA, Donatella: „Marcel Breuer, the Wassily chair and the ‘frozen’ Bauhaus modernism after 1945”, S. 247 – 264 in: “Journal of Design History”, Volume 35, Number 3, 2022, Oxford University Press.

Marcel Breuer Archiv: https://breuer.syr.edu/

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