Charlotte Perriand und Le Corbusier
Schon bald nach Ende ihres Studiums wandte sich Charlotte Perriand zunehmend vom Art Déco ab und – inspiriert von der funktionsorientierten Konstruktionsweise von Fahrrädern und Autos – einer progressiven, das Maschinenzeitalter heraufbeschwörenden Moderne zu. 1926 – nach ihrer Hochzeit mit dem Engländer Percy Kilner Scholefield – richtete das Paar die eigene Wohnung in diesem Stil ein, wobei die Hausbar mit Bauteilen aus eloxiertem Aluminium, Glas und Chrom besondere Aufmerksamkeit erfuhr: zum Salon d’Automne 1927 wurde eine Kopie unter der Bezeichnung Bar sous le toit, was soviel bedeutet wie Bar im Dachboden, öffentlich in Betrieb genommen. So gelang es Charlotte Perriand auch, als Mitarbeiterin im Büro von Le Corbusier eingestellt zu werden: Beeindruckt von seinen Büchern „Vers une Architecture“ und „L’Art Decoratif d’Aujourd’hui“, stellte sie sich zunächst mit eher traditionellen Arbeitsproben bei Le Corbusier vor und wurde mit den Worten „Wir besticken hier keine Kissen.“ abgewiesen. Einige Monate später war es die Bar sous le toit, die den Schweizer doch noch von Perriands Qualitäten überzeugte.
Gemeinsam mit Charlotte Perriand und seinem Cousin Pierre Jeanneret begann Le Corbusier erstmals auch Möbel zu entwerfen, wobei diese zunächst zur Ausstattung bestimmter von ihm entworfener Gebäude vorgesehen waren. Es ist davon auszugehen, dass Charlotte Perriand die Möbelentwürfe im Detail erarbeitete, während Le Corbusier grobe Vorgaben bezüglich der Anforderungen an die Möbelstücke spezifizierte. Auf diese Weise entstanden schon nach kurzer Zeit Stahlrohrmöbel, die heute zu Ikonen der Moderne aufgestiegen sind. Bereits 1928 etwa, wurden der Sessel LC2 und die Chaiselongue LC4 vorgestellt. Zu diesem Anlass wurde ein Photo veröffentlicht, auf dem Charlotte Perriand auf der Chaiselongue posiert. Dabei trug sie passend zur teknoiden Maschinenästhetik des Möbelstücks eine Halskette, die anstatt aus Perlen aus Stahlkugeln für Kugellager geknüpft war. Das Kugellager findet sich auch in Gemälden von Fernand Leger wieder, mit ddem die Französin eng befreundet war Erwähnenswert ist auch ihre enge Freundschaft zu Fernand Leger, mit dem sie gemeinsam in den 1930er Jahren graphische Projekte gestaltet.
Wie auch Le Corbusier engagierte sich Charlotte Perriand in den 1930er Jahren für den Congrès International de l’Architecture Moderne, an dessen Sitzungen sie 1933 in Athen und 1937 in Paris teilnahm. 1931 trat sie außerdem der Kommunistischen Partei und der KP-nahen Association des Écrivains et Artistes Révolutionaires bei. 1937 verließ sie das Büro von Le Corbusier um gemeinsam mit Fernand Léger die grafische Präsentation des Agrarprogramms der linksgerichteten französischen Regierung zu gestalten und in der Folgezeit selbstständig als Innenarchitektin und Designerin zu arbeiten.
Charlotte Perriand in Asien
Auf Einladung des japanischen Ministeriums für Handel und Industrie reiste Perriand 1940 als Beraterin nach Japan, wo ihre Aufgabe darin bestand, im Spannungsfeld japanischer und westlicher Fertigungstraditionen zum Aufbau einer exportorientierten Produktion beizutragen, die sowohl auf handwerkliche als auch auf industrielle Verfahren zurückgreift. Als Assistent und Übersetzer wurde ihr Sori Yanagi zur Seite gestellt, mit dem sie auch nach ihrem Aufenthalt im Land der aufgehenden Sonne eng befreundet bleibt. Als Japan 1942 in den Zweiten Weltkrieg eintrat, verließ Perriand das Land um nach Frankreich zurückzukehren. Aufgrund der Seeblockade blieb Europa für sie aber unerreichbar, woraufhin sie in der französischen Kolonie Indochina Unterschlupf fand, aus der sich zu dieser Zeit Vietnam als eigenständiges Land löste. Perriand nutzte ihren von äußeren Umständen erzwungenen Aufenthalt in Südostasien, um sich mit den örtlichen traditionellen Schreinerei- und Webtechniken vertraut zu machen. Nachdem ihre erste Ehe bereits nach vier Jahren geschieden worden war, heiratet sie in Indochina ihren zweiten Mann Jacques Martin, und die gemeinsame Tochter Pernette wurde geboren.
Mit Ende des zweiten Weltkriegs kehrte Charlotte Perriand schließlich nach Frankreich zurück, wo sie wieder mit Le Corbusier und Pierre Jeanneret zusammenarbeitete. Darüber hinaus entwickelte sich auch eine enge Kooperation mit Jean Prouvé. Der Vertrieb der Möbel erfolgte dabei über die berühmte Pariser Galerie Steph Simon. In den 1950er Jahren erhielt Perriand zahlreiche hochrangige Aufträge für Inneneinrichtungen. So entwarf sie etwa einen Küchenprototypen für Corbusiers Unité d’Habitation, war am französischen Beitrag zur Mailänder Triennale von 1951 beteiligt, entwarf Sitzungssäle für den Völkerbundpalast in Genf und arbeitete mit Le Corbusier und Lucio Costa an der Maison du Brésil in der Cité Universitaire in Paris. Die Möbel, die sie in dieser Zeit – meist als Einrichtungsgegenstände für ihre Interieurs – entwarf, sind nicht mehr von Stahlrohr und Maschinenästhetik geprägt, sondern greifen traditionelle, handwerkliche Fertigungsmethoden auf moderne Weise auf; als Werkstoff verwenden sie meist Holz. Beispiele für Perriands Möbel aus dieser Zeit sind etwa der Rio Couchtisch, den sie für die Maison du Brésil entwarf, oder der für die benachbarte Maison du Mexique enstandene Mexique Schreibtisch.
Schon in ihrer Kindheit war Charlotte Perriand oft nach Savoyen gereist, wo ihre Großeltern lebten. Dieser Alpenregion blieb sie ihr Leben lang verbunden. 1960 ließ sie im dortigen Wintersportort Méribel nach eigenen Entwürfen ein Chalet errichten, das ihr fortan als Rückzugsort und Unterkunft für den Skiurlaub diente. Zur Ausstattung dieses Chalets entwarf Perriand unter Anderem den Hocker Tabouret Méribel. Von 1962 bis 1978 war sie an der Planung und Entstehung des Skigebiets Les Arcs beteiligt, für das oberhalb des ebenfalls in Savoyen gelegenen Dorfs Bourg-Saint-Maurice gleich vier Feriendörfer vollkommen neu errichtet wurden.
Zahlreiche Möbelentwürfe von Charlotte Periand werden heute von Cassina als Teil der Maestri Kollektion produziert. Der italienische Hersteller errichtete 2012 auch erstmals ein Exemplar des Refuge Tonneau, einer Schutzhütte für Bergwanderer, die Charlotte Perriand 1938 gemeinsam mit Pierre Jeanneret entworfen hatte. Die Hütte auf zwölfeckigem Grundriss steht auf schlanken Füßen und ist außen mit Aluminiumpaneelen verkleidet, was ihr die Anmutung einer Raumkapsel verleiht. Der Innenraum jedoch knüpft mit seiner Holzverkleidung an traditionelle Interieurs des Alpenraums an und ist erstaunlich gemütlich. Ihre Leuchtenentwürfe wurden von Nemo neu aufgelegt.
1985 zeigte das Musée des Arts Décoratifs in Paris eine Retrospektive über das Werk von Charlotte Perriand. 1998 präsentierte auch das Londoner Design Museum eine Perriand-Werkschau, und die Autobiographie „Une Vie de Création“ wurde veröffentlicht. Charlotte Perriand starb 1999 in ihrer Heimatstadt Paris.