Designklassiker der amerikanischen Moderne von Richard Neutra
Geboren und aufgewachsen ist Richard Neutra als Kind einer wohlhabenden jüdischen Familie im Wien der Jahrhundertwende – dem damaligen Schmelztiegel der Modernität, in dem Architektur, Kunst, Musik und Sprache in Frage gestellt und neu interpretiert wurden. Architekten wie Otto Wagner, Josef Hoffmann und Adolf Loos setzten Maßstäbe für moderne Bauten, stilprägend waren natürlich auch die Wiener Werkstätte und die Künstler der Wiener Secession. Neutra war eng mit Ernst Freud, dem Sohn von Sigmund Freud, befreundet. In Wien erhielt er wichtige und prägende Anregungen für sein späteres Werk.
Richard Neutra studierte ab 1910 Architektur an der Technischen Hochschule Wien und wurde ein Anhänger des bedeutenden Jugendstil-Architekten Otto Wagner. Im Rahmen des Studiums besuchte Neutra auch die private Bauschule von Adolf Loos , der als Wegbereiter einer geradlinigen und schnörkellosen Moderne nachhaltigen Einfluss auf ihn ausübte. Loos lehnte den damaligen verspielten Jugendstil ab, seine 1908 veröffentlichte Streitschrift „Ornament und Verbrechen“ setzte Maßstäbe für den Aufbruch in die Moderne. Durch den Ersten Weltkrieg musste Neutra sein Studium unterbrechen, er diente als Leutnant der Reserve bei der Artillerie. Sein Studium konnte er erst nach Kriegsende im Sommer 1918 beenden. 1919 ging Richard Neutra zur Kur in die Schweiz, da er während des Krieges an Malaria und Tuberkulose erkrankt war. Dort lernte er in Zürich Gustav Ammann kennen, den bedeutenden Schweizer Garten- und Landschaftsarchitekten. Dessen Arbeiten, die die Architektur in den sie umgebenden Raum erweitern, sollten später Neutras Bezug zur Natur und seine von ihm als „Biorealismus“ bezeichnete Grundhaltung beeinflussen. Zusätzlich besuchte er das Entwurfsseminar von Karl Moser an der Universität Zürich.
1920 vermittelte ihm sein bester Freund Ernst Freud eine Anstellung in einem Berliner Architekturbüro, ein Jahr später wurde Richard Neutra Stadtplaner in Luckenwalde im Südwesten Berlins. Hier kam er in Kontakt mit dem Expressionisten Erich Mendelsohn, einem der damals erfolgreichsten Architekten im Deutschland der Zwischenkriegsära. Als Mendelsohns Mitarbeiter war Neutra an dem Projekt des sogenannten Einstein-Turms in Potsdam beteiligt, auch lernte er dort das damals neue Baumaterial Stahlbeton kennen, das neue Möglichkeiten der architektonischen Gestaltung mit sich brachte. In Zürich hatte Neutra die Schweizer Musikerin Dione Niedermann kennengelernt, die er 1922 heiratete. Ein Jahr später ging das Ehepaar in die USA, wo Neutra die beeindruckende Wolkenkratzer-Architektur kennenlernte und zeitweise bei Frank Lloyd Wright in Taliesin/Wisconsin arbeitete. 1925 zogen sie an die amerikanische Westküste nach Los Angeles. Dort betrieb Neutra zunächst ein gemeinsames Büro mit dem österreichischen Architekten Rudolf Schindler, bevor er 1927 sein eigenes Architekturbüro eröffnete. Mit Schwerpunkt in Kalifornien baute Neutra nun Villen, Schulen, Geschäftshäuser und Wohnsiedlungen, die bei aller Unterschiedlichkeit immer ein Motiv aufnahmen: die Einbindung des Gebäudes in die Natur.
Mit lichtdurchfluteten Häusern prägte Neutra das Bild der kalifornischen Moderne. Besonders die Planung und der Bau des Lovell Health House ab 1927 machten ihn international bekannt. Es war das erste Einfamilienhaus, das in den USA in Stahlskelettbauweise gebaut wurde. Ausgestattet mit großen Glasflächen, ähnlich wie bei seinem Vorbild Frank Lloyd Wright, schuf Neutra einen harmonischen Einklang mit der Umgebung. Als einziger Architekt der amerikanischen Westküste wurde Neutra 1932 mit dem Lovell Health House bei der Ausstellung „Modern Architecture“ im Museum of Modern Art in New York präsentiert. Für das Haus entwarf Neutra auch zahlreiche Möbel wie den Lovell Lounge Chair oder das Sitzsystem Alpha Seating.
1929 erhielt Richard Neutra die amerikanische Staatsbürgerschaft, ein Jahr später bereiste er im Rahmen einer Vortragsreise erstmals wieder Europa. Hier besuchte er u.a. Sigmund Freud in Wien und das Bauhaus in Dessau. Zwischen 1932 und 1970 führte Neutra mehr als 200 Projekte aus – und zählt heute zusammen mit Le Corbusier, Walter Gropius, Marcel Breuer und Ludwig Mies van der Rohe zu den Pionieren der Architektur und den Wegbereitern der Moderne. Seine Kunden erhielten im Vorfeld häufig umfassende Fragebögen, um so möglichst auf die individuellen Bedürfnisse eingehen zu können und diese bei der Planung zu berücksichtigen. Neutra arbeitete bewusst anders als andere Architekten, die machmal eher ihre eigenen Anforderungen und Dogmen realisieren wollten.
Dabei legte Neutra stets viel Wert auf die Einbettung der Architektur in die Umgebung und die Garten- und Landschaftsgestaltung. Besonders das Element Wasser war ihm wichtig: oftmals umgaben die Gebäude kleine Teiche und Wasserflächen, die als Spiegel zur reflektierenden Lichtbrechung (Reflection Pools) dienten. Das ganzheitliche Prinzip wird besonders bei dem Kaufmann Desert House in der Nähe von Palm Springs in Kalifornien deutlich. Entstanden im Jahr 1946 in einer einsamen, wüstenähnlichen Landschaft, fügt sich die Villa perfekt in die Umgebung ein. Große Steinfelsen verbinden dabei Architektur und Umgebung, Raum und Landschaft gehen fließend ineinander über. Für die Publizierung seiner Bauten und Architekturtheorien arbeitete Neutra sehr professionell – Bücher wurden in der Regel mehrsprachig veröffentlicht, dies steigerte international schnell seinen Bekanntheitsgrad. Für die Fotos seiner Häuser arbeitete er mit dem berühmten Architekturfotografen Julius Shulman zusammen, wodurch besonders das Kaufmann Desert House immer wieder publiziert wurde.
In den frühen 1940er Jahren entwarf Neutra sein bekanntestes Möbel – den Boomerang Chair. Dieser organisch geformte Schichtholzsessel entstand für das Wohnsiedlungsprojekt Channel Heights als preiswertes Möbel zur Selbstmontage. Später entwickelte und nutzte Neutra den Boomerang Chair in diversen Ausführungen
und Proportionen. Bekannt wurde der Sessel im Jahr 1945, als er in der amerikanischen Frauenzeitschrift Women’s Day Magazine mit einer Bastelanleitung für die Selbstmontage publiziert wurde. Die von VS Möbel editierte Variante des Boomerang Chairs basiert auf dieser Version.
Auch in Europa wurde Neutra nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aktiv. In Deutschland schuf er exemplarisch ab 1961 für die Hamburger Betreuungs- und Wohnungsbaugesellschaft Bewobau zwei Siedlungen, entwarf das Haus Rang in Königstein im Taunus und Ende der 1960er Jahre zwei Villen in Wuppertal. Als sein europäisches Hauptwerk gilt das Haus Bucerius hoch über dem Lago Maggiore im Tessin – ein Entwurf für Gerd Bucerius, den Gründer der Wochenzeitung Die Zeit. Ab 1966 lebte Neutra zusammen mit seiner Frau wieder in Wien; das Atelier in Los Angeles leitete zu dieser Zeit schon sein Sohn Dion Neutra. Überraschend starb Neutra 1970 mit 78 Jahren an Herzversagen in dem von ihm entworfenen Haus Kemper in Wuppertal.