Italienisches Radical Design – Studio 65
So verhält es sich auch mit den wohl bekanntesten Entwürfen des Studio 65: den Sesseln Attica und Capitello sowie dem Sofa Bocca. Die aus Polyurethanschaum hergestellten Sitzmöbel werden bis heute von Gufram gefertigt. Das 1966 von den Gebrüdern Gugliermetto gegründete Unternehmen, entwickelte das Fertigungsverfahren für kaltgeschäumte Möbel aus Polyurethan damals gemeinsam mit tonangebenden Designern der Zeit – unter anderem mit Studio 65. Gufram leistete damit einen wichtigen Beitrag zum Radical Design, denn viele der stiltypischen skulpturalen und bunten Entwürfe sind ohne dieses Fertigungsverfahren kaum umsetzbar. Die gemeinsam gedachten Entwürfe Attica und Capitello sind als eine scherzhafte Versinnbildlichung des vom Radical Design angestoßenen, künstlerischen Neuanfangs zu verstehen. In Gestalt eines ionischen Kapitells bzw. eines Teils eines ionischen Säulenschafts, lassen sie an den ruinenhaften Verfall der Antike denken. Da ihnen als Sitzmöbeln aber ein neuer Verwendungszweck geschenkt ist, entsteht hierbei aus der Zerstörung des überkommenen Alten, etwas nutzbringendes Neues. Die Antike mit ihrer typischen Strenge kann gleichzeitig als Chiffre für die ebenfalls als streng empfundene klassische Moderne gelesen werden, die von der enthemmt-überschwänglichen Postmoderne abgelöst werden soll.
Noch bekannter ist wohl das Sofa Bocca, das Studio 65 ursprünglich auf Wunsch eines privaten Auftraggebers entwarfen. Inspiriert von Dalìs illusionistischer Installation eines Raumes als Gesicht von Mae West, in dem ein Sofa den Mund darstellt, orientiert sich das Erscheinungsbild von Bocca am Mund von Marylin Monroe. Das sinnliche Sitzmöbel erreichte innerhalb kürzester Zeit Kultstatus und war bereits Teil des Bühnenbilds auf Tourneen von Beyoncé, Kylie Minogue oder Katy Perry. Auch als Photorequisit wird es oft eingesetzt, etwa von David Lachapelle oder Richard Avedon. Gemeinsam mit dem Sofa wurden unter Anderen Claudia Cardinale, Heidi Klum, Alicia Silverstone, Anne Hathaway oder Carmen Electra abgelichtet. Als Ausstellungsstück ist es in zahlreichen bedeutenden Designsammlungen zu sehen, etwa im Münchner Design Museum oder im Musée des Arts Décoratifs in Paris.
Das Studio 65 ist auch weiterhin im Möbeldesign aktiv und stellte etwa 2013 den Stuhl Moulin Rouge vor. Darüber hinaus hat sich das Studio auch in der Architekturwelt etabliert und ist mit zahlreichen architektonischen Projekten insbesondere in den Ländern des nahen Ostens vertreten. Besonders bemerkenswert ist dabei das mehrfach preisgekrönte Zementwerk in Yambu am Roten Meer, das die unverwechselbare Formensprache des Radical Design in die Architektur überträgt.