Der EVO-C von Vitra: Die Evolution der Freischwinger setzt sich fort

Der Freischwinger – weniger spezifisch auch als zweibeiniger Stuhl oder Stuhl ohne Hinterbeine bezeichnet – ist eine Form des Stuhls, bei der die Last des Sitzenden lediglich über die beiden Vorderbeine abgetragen wird; die hinteren Beine fehlen völlig. Die vorderen Beine gehen in Kufen über, die auf dem Boden aufliegend nach hinten reichen und so dafür sorgen, dass der Stuhl nicht nach hinten umkippt. Denkbar sind auch Varianten, bei denen die Vorderbeine in eine durchgehende Fläche aufgelöst oder die Kufen durch eine andere Art von Fuß ersetzt sind.

Nimmt man auf einem Freischwinger Platz, setzt man die Beine des Stuhls unter Spannung, da sie nicht nur eine in gerader Linie von oben nach unten wirkende Kraft aufnehmen, sondern auch ein Drehmoment abfangen und in die Kufen umleiten. Typischerweise gibt der Stuhl unter dieser Belastung elastisch federnd leicht nach und ermöglicht dadurch ein angenehmes spielerisches Wippen, das – ähnlich wie bei einem Schaukelstuhl – auch im Sitzen noch für eine gewisse Beweglichkeit sorgt. Stühle, die zwar die beschriebene Bauform ohne Hinterbeine aufweisen, aber so starr ausgeprägt sind, dass sie kein Wippen ermöglichen, sind bei strenger Auslegung keine Freischwinger sondern Kragstühle.

Diese spitzfindige Unterscheidung wurde bereits in den 1930er Jahren zum Argument in diversen Gerichtsprozessen über die Urheberschaft dieser Bauart. Tatsächlich ist bis heute nicht abschließend geklärt, wer das Konzept Freischwinger erfand und die damit verbundenen technischen Schwierigkeiten löste. Fest steht, dass der niederländische Architekt und Designer Mart Stam 1926 als Erster einen Stuhl ohne Hinterbeine öffentlich präsentierte. Das von Stam selbst als Kragstuhl bezeichnete Möbelstück war jedoch noch recht starr ausgeprägt. Im Folgejahr präsentierte Ludwig Mies van der Rohe auf der Werkbundausstellung in Stuttgart, in deren Rahmen auch die Weißenhofsiedlung entstand, seinen Freischwinger MR 20, der schon wesentlich stärker federte. Mies van der Rohe hatte sich das Konzept des Freischwingers bereits vor 1926 patentieren lassen und Mart Stam, der auch an der Werkbundausstellung beteiligt war, davon berichtet. Wiederum ein Jahr später präsentierte Marcel Breuer seine Freischwinger B32 und B64, die auch als Cesca Stühle bekannt sind. Dass in der Folge außerdem Hersteller wie die Firma Mauser mit anonymen Entwürfen das Konzept des Freischwingers aufgriffen, machte die Lage nur noch unübersichtlicher.

Eines ist den erwähnten frühen Freischwingern dabei stets gemein: sie alle verwenden ein Gestell aus Stahlrohr. Das Material Stahl verknüpft Härte und Elastizität und ist sowohl auf Zug als auch auf Schub stark belastbar. Diese Eigenschaften prädestinieren Stahlrohr zum Bau von Freischwingern. Generell ist Stahlrohr – meist mit verchromter Oberfläche – ein typisches Merkmal des Möbeldesigns der 1920er Jahre, insbesondere am Bauhaus. Die Idee, Stahlrohr für den Möbelbau zu verwenden, geht auf Marcel Breuer zurück, der dazu beim Radfahren vom Anblick des Lenkers inspiriert wurde. Auf diese Weise hat er also in jedem Fall einen wichtigen Beitrag zur Erfindung des Freischwingers geleistet.

Allerdings ist Stahlrohr nicht das einzige für den Bau von Freischwingern geeignete Material. Bereits 1932 gelang es dem finnischen Architekten und Designer Alvar Aalto mit seinem Sessel 42 einen Freischwinger zu konstruieren, dessen tragende Struktur aus formverleimtem Schichtholz besteht. Im gleichen Jahr stellte der Niederländer Gerrit Rietveld seinen Zickzack-Stuhl aus Massivholz vor. Diese Konstruktion aus vier Brettern unterscheidet sich jedoch von den zuvor beschriebenen Freischwingern: Das Brett, das die Funktion der Vorderbeine übernimmt, führt nicht senkrecht zum Boden, sondern ist diagonal angeordnet und erreicht den Boden dort, wo bei einem herkömmlichen Stuhl die Hinterbeine fußen würden. Von dort weist das Brett, das die Funktion der Kufen übernimmt, wiederum nach vorne. Durch diese Abwandlung der Freischwingerform entsteht die charakteristische Zickzack-Silhouette des Rietveld-Entwurfs.

Das Material Kunststoff schließlich kommt bei dem 1967 vorgestellten Panton-Chair zum Einsatz. Der Entwurf des dänischen Designers Verner Panton ist zudem ein Monobloc, der gesamte Stuhl besteht also aus einem einzigen Bauteil. Er verschmilzt die Formen des Zickzack-Stuhls und der vorangegangenen Freischwinger zu einer harmonischen Synthese. Der wie ein geschwungenes Band anmutende Stuhl verwendet eine ergonomische Sitzschale, die an ihrer Vorderkante nahtlos in die Beine übergeht. An seinen Kanten reicht das beschriebene Band dort fast senkrecht nach unten, während es in der Mitte deutlich weiter nach hinten reicht, so dass es auf dem Boden die Form eines Bogens beschreibt. Kufen entfallen hierbei völlig. Diese Form, die sich schlüssig in das organische Erscheinungsbild des Stuhls einfügt, mildert außerdem die auftretenden Kräfte etwas ab. Trotzdem war die Umsetzung in Kunststoff zum damaligen Zeitpunkt noch problematisch. Erste Modelle waren durch eine Verstärkung mit Glasfasern zwar den auftretenden Kräften gewachsen, ihre Herstellung war jedoch sehr aufwändig. Gleiches galt für die anschließend produzierten Exemplare aus Polyurethan-Hartschaum. Die ab 1970 produzierten Stühle aus dem Kunststoff Luran S erwiesen sich hingegen auf Dauer nicht als ausreichend belastbar und Neigen nach einiger Zeit zu Rissen. Nachdem die Produktion des Panton-Chair zwischenzeitlich eingestellt wurde, konnte erst 1999 mit der Verwendung von Polypropylen eine befriedigende Lösung gefunden werden. Diese ist nicht nur stabil und einfach zu produzieren – was sich auch in einem günstigeren Verkaufspreis zeigt – sondern außerdem vollständig recyclingfähig.

Der nun von Vitra vorgestellte Stuhl EVO-C nach einem Entwurf von Jasper Morrison stellt die nächste Evolutionsstufe des Freischwingers dar und knüpft an die vorgestellten Modelle logisch an. Morrison kehrt mit seinem zurückhaltend daherkommenden Entwurf zurück zur klassischen Form der frühen Freischwinger. Beine und Kufen werden nicht in ein Band aufgelöst, sondern wieder klar ausgebildet. Die in den 1920er und 30er Jahren verwendeten Rückenlehnen in Form von Leder- und Textilbespannungen, aus Holz, mit Polstern oder mit Geflecht, werden hingegen durch eine ergonomisch geformte Sitzschale ersetzt. Wie die jüngste Materialvariante des Panton-Chair, besteht auch der EVO-C aus einem einzigen Stück und ist im Spritzgussverfahren aus Polypropylen gefertigt. Eine Neuheit stellt dabei die Verwendung des Gasinnendruckverfahrens dar, dass es ermöglicht, Hohlräume in Spritzgussteilen umzusetzen. Auf diese Weise wurden die Beine zu Rohren ausgebildet, was ihnen zusätzliche Stabilität verleiht und dem Stuhl das angenehme Schwingverhalten seiner stählernen Vorbilder verleiht.

Jasper Morrison strebte auch beim Entwurf des EVO-C nach einer Form, die der von ihm propagierten Idee des „Super Normal“ entspricht. Er versucht an etablierte Formen anzuknüpfen, die sich für Alltagsgegenstände über lange Zeit herausgebildet und etabliert haben. Die so entstehenden Entwürfe bringen eine große Selbstverständlichkeit mit und verzichten zugunsten von Nutzbarkeit und Zurückhaltung auf spektakuläre Gesten. Freischwinger sind durch das Fehlen der hinteren Beine ohnehin bereits sehr materialreduziert und können, sobald ein Mensch auf ihnen Platz nimmt, soweit in den Hintergrund treten, dass sie beinahe unsichtbar werden. Morrisons dezenter Entwurf mit seiner schlanken Sitzschale bringt diesen Aspekt, der bereits Ludwig Mies van der Rohe am Konzept des Freischwingers gereizt hatte, besonders gut zur Geltung. Damit treibt er die Auflösung und Entmaterialisierung des Sitzens voran und nähert es dem von Marcel Breuer formulierten Ziel weiter an. Für ihn nämlich war der ideale Stuhl nichts weiter als eine federnde Luftsäule.

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