Die multifunktionale Anglepoise Leuchte
Der auf die Konstruktion von Autofahrwerken spezialisierte Ingenieur George Carwardine entwickelte 1931 zunächst ein theoretisches Konzept dafür, Gewichte mittels Hebeln und Federn im Gleichgewicht zu halten. Durch die Verwendung von Zugfedern mit gleichbleibender Spannung, eignet sich das Konstruktionsprinzip um justierbare Arme in Position zu halten. Sie lassen sich auf diese Weise ohne ein wiederholtes Lösen und Arretieren und mit nur geringer Kraft verstellen, und bleiben in jeder beliebigen Position stabil. Das neuartige Konstruktionsprinzip brachte Carwardine in Form einer Tischleuchte mit vier Zugfedern zur Anwendung, für die er 1933 ein Patent erhielt. Er produzierte die Leuchten zunächst selbst in einer Werkstatt in Somerset. Bald konnte er jedoch die steigende Nachfrage nicht mehr befriedigen und kooperierte für die Herstellung der Leuchten mit der Herbert Terry and Sons Ltd. dieses 1855 gegründete Familienunternehmen hatte sich von seiner Gründung an der Herstellung eines Bauteils gewidmet, das für die Anglepoise-Leuchte von äußerster Wichtigkeit war: Federn. Ab den 1920er Jahren stellte Herbert Terry and Sons aber auch gefederte Fahrradsättel und andere Produkte her, in denen Federn zum Einsatz kommen. Die Anglepoise-Leuchte war für das Unternehmen also eine logische Ergänzung der Produktpalette.
Weil Carwardines ursprünglicher Entwurf mit vier Federn für den Einsatz in Wohnumgebungen als zu unfein erachtet wurde, passte dieser den Entwurf an und fand gemeinsam mit den Designern der Herbert Terry and Sons Ltd. eine zierlichere Lösung, die mit nur drei Federn auskommt. Dieser 1935 vorgestellte Entwurf, der auch als Anglepoise Original 1227 bekannt ist, gilt gemeinhin als archetypische Form der Anglepoise-Leuchte. Zwar wurde der Entwurf in den folgenden Jahrzehnten immer wieder behutsam angepasst und verbessert, die grundlegende Anmutung und Konstruktion blieb dabei jedoch stets erhalten. Ein besonderes Merkmal des Entwurfs ist dabei die Anordnung sämtlicher Federn im Sockelbereich. Charakteristisch ist außerdem die grundlegende Form der Leuchte, die sich mit ihren drei Gelenken und der Länge der einzelnen Streben an einem menschlichen Arm orientiert, wobei der Lampenschirm der Hand entspricht.
Als schon bald nach der Markteinführung der Anglepoise-Leuchte der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde die Leuchte auch für militärische Zwecke eingesetzt. So fand sie als Arbeitsplatzbeleuchtung für Navigatoren etwa an Bord von Kriegsflugzeugen Verwendung. Als Anfang der 1980er Jahre eine Gruppe amerikanischer Hobbyforscher im Loch Ness nach dem legendären Monster suchte, fand sie stattdessen eine abgestürzte Vickers Wellington, die im Zweiten Weltkrieg als Bomber eingesetzt wurde. Mit an Bord befand sich eine Anglepoise-Leuchte, die auch nach dem Absturz und 40 Jahren im Loch Ness noch voll funktionsfähig war. Das Flugzeugwrack ist heute einschließlich der Leuchte im Brooklands Museum in Surrey ausgestellt.
Auch im Bereich der Kultur wird die Angelpoise-Leuchte rege rezipiert. So widmete ihr die Punk-Band „The Soft Boys“ den 1979 veröffentlichten Song „(I want to be an) Anglepoise lamp”. 1985 fertigte der Bildhauer David Mach aus 360 Anglepoise-Leuchten die Skulptur „Knuckle Shuffle“ an, die in Form einer riesigen Hand wiederum Bezug auf die anthropomorphe Gestalt der Leuchte selbst nimmt. Die vom menschlichen Arm inspirierte Formgebung und die ausgesprochene Beweglichkeit, dürften auch das Animationsstudio Pixar veranlasst haben, eine Federzuglampe als Maskottchen zu wählen. Zwar handelt es sich bei der Leuchte namens Luxo Jr., die gleichzeitig auch der Titelheld von Pixars erstem Film ist, nicht ausdrücklich um ein Modell von Anglepoise, die Ähnlichkeit ist jedoch deutlich. Sogar auf einer Briefmarke der Royal Mail wurde die Anglepoise-Leuchte bereits verewigt. Dies geschah im Rahmen einer 2009 aufgelegten Briefmarkenserie zu Ehren britischer Designikonen. Die Serie umfasste beispielsweise auch den Mini Cooper, den für London typischen, roten Doppeldeckerbus und den Linienplan der Londoner U-Bahn.
Die Anglepoise-Leuchte wird heute in zahlreichen Museen weltweit ausgestellt. Frühe Exemplare finden sich etwa im Londoner Victoria & Albert Science Museum sowie im London Design Museum. Auch im Rahmen der Wanderausstellung „Lightopia“ des Vitra Design Museums wird eine Anglepoise-Leuchte gezeigt. Im Auftrag des in Buckinghamshire gelegenen Roald Dahl Museums fertigte Anglepoise im Jahr 2005 eine riesenhafte Variante der ursprünglichen Tischleuchte an, die über zwei Meter hoch ist. Zum einen verwendete der Kinderbuchautor Dahl selbst eine Anglepoise-Tischleuchte zum anderen sorgt der Maßstabssprung für eine willkommene Verspieltheit und bricht die Sehgewohnheiten der Ausstellungsbesucher. Bei gleicher Gelegenheit wurden zwei weitere übergroße Leuchten hergestellt: eine für den Regisseur Tim Burton, eine weitere für die Londoner Ausstellung „100% Design“. Aufgrund des großen Interesses an der riesigen Anglepoise-Leuchte wird sie mittlerweile auch im regulären Sortiment angeboten und ist selbstverständlich auch bei Markanto erhältlich.